Migration - Ein- und Auswanderung im TG


Ein grosser Teil der Bevölkerung auf dem Seerücken, auf den Sie nun hinunterblicken, sind Nachkommen von Einwanderern, sehr oft aus dem Kanton Bern. Ein- und Auswanderung hat im Thurgau immer eine wichtige Rolle gespielt.


"wegen Hungers aus dem Landt gezogen"

Meist war es pure Not - Armut, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit oder Hunger -, die viele Leute zwang, den Thurgau zu verlassen und sich anderswo eine neue Existenz aufzubauen.

Das historische Lexikon der Schweiz formuliert es so:

 

Auswanderung als Folge des Bevölkerungsdrucks:

 

"Neben den persönlichen oder familiären Beweggründen waren drei Faktoren für die Auswanderung ausschlaggebend: Bevölkerungsdruck, Armut und Unterbeschäftigung.

Das Missverhältnis zwischen Bevölkerungszahl und Ressourcen führte gemäss zeitgenössischen Berichten im 16. Jh. zu einer verbreiteten Verarmung. In den höher gelegenen Regionen brachte die Spezialisierung auf Viehzucht ab dem 15. Jh. eine chronische Unterbeschäftigung mit sich, der die Bevölkerung durch Auswanderung zu begegnen versuchte."

 

Auswanderung infolge wirtschaftlicher Not:

 

Auswanderungsströme wurden durch versch. wirtschaftliche Probleme ausgelöst: fallende Agrarpreise nach dem Dreissigjährigen Krieg; die Mangeljahre 1709-11, denen eine Ausreisewelle nach Ostpreussen folgte; Probleme in der Textil- und der Uhrenbranche in den 1770er Jahren; die kriegsbedingte allgemeine Verarmung zu Beginn des 19. Jh., die zur Auswanderung nach Russland führte (während in den Hungerjahren 1816-17 vor allem Lateinamerika Auswanderungsziel war); die Landwirtschaftskrise der 1840er Jahre, die die ersten Massenauswanderungen nach Amerika auslöste; schliesslich die Agrarkrise der 1870er und 80er Jahre, welche die Bauern nach Amerika und die Molkereispezialisten in die europäischen Nachbarländer auswandern liess.

Abschiebung von Verarmten und Kriminellen:

 

Die kantonalen Behörden haben je nach Ort und Zeit höchst unterschiedliche Haltungen gegenüber der Auswanderung eingenommen. Das Spektrum reicht von der stillschweigenden Toleranz bis zum Verbot, von der staatlichen Unterstützung bis zur Abschiebung der Armen, die in einigen Kantonen im grossen Stil betrieben wurde und zuweilen einer eigentlichen Deportation gleichkam.

 



Auswanderungen aus Tägerwilen

"... Es war deshalb kein Wunder, dass auch Tägerwiler bereit waren, der Heimat den Rücken zu kehren und in die Neue Welt auszuwandern.

Die Bürgergemeinde unterstützte solche Vorhaben, indem sie zuerst ledigen Gemeindegenossen, dann auch ledigen "Weibspersonen", die nach Amerika auswandern wollten, je 100.- Reisegeld zukommen liess - mit der Bedingung, es bei allfälliger Rückkehr zurückzuerstatten.

Insgesamt waren es in Tägerwilen über 20 Personen, die sich in diesen Jahren zur Auswanderung entschlossen. Das Ziel der meisten war Amerika, zwei emigrierten nach Paris, einer nach St. Petersburg."

 

(aus dem Buch "Tägerwilen" von P. Giger / E. König / M. Surber; das Zitat bezieht sich auf die Mitte des 19. Jhdts)



Ein Beispiel einer Einwanderung: Familie von Siebenthal zieht 1904 in den Thurgau

1904 erblindete Katharina von Siebenthal aus Turbach bei Gstaad. Ein Leben als Bergbäuerin war fortan nicht mehr möglich.

Ihr Mann Gottfried sah sich gezwungen, mit seinen acht Kindern ins "Unterland" in den Thurgau auszuwandern.

Maria Frick, Enkelin dieses Ehepaars, hat die Ereignisse anlässlich des 100-Jahr-Jubiläumsfeier 2004 für die Familie aufgezeichnet:

 

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Einziger Thurgauer in Raperswilen...

Als wir einmal nach dem Gottesdienst in Raperswilen die Kirchgänger noch zu uns in den "Kirchenkaffee" eingeladen hatten, stiessen wir auf dieses Thema - und es stellte sich heraus, dass ich der einzige Thurgauer in dieser Gruppe war. Alle andern hatten Berner Wurzeln - und das in einem typischen Thurgauer Bauerndorf.

(Oder gehen die Thurgauer wohl weniger in die Kirche als die Berner...?)

Unterschiedliches Erbrecht

Die Erbteilung im Thurgau hatte fatale Folgen: Wenn sich die Söhne den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb teilen mussten, wurde dieser in jeder Generation immer kleiner (oft mit nur einer Kuh pro Betrieb) und vermochte eine Familie bald nicht mehr zu ernähren. Sie verarmte und war gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen.

 

Anders im Kantons Bern, wo stets der jüngste Sohn den ganzen Betrieb ungeteilt übernahm (deshalb gibt es heute noch so viele stattliche Emmentaler Bauernhäuser) - und seine Brüder dann auszahlen musste.

Diese zogen also mit einem prall gefüllten Geldbeutel aus, um sich anderswo ein neues "Gwärb" zu suchen...

 

Angebot und Nachfrage ergänzten sich also, je nach Sichtweise, ideal oder fatal.

 

Viele verarmte Thurgauer Bauern wanderten in dieser Zeit als Melker nach Deutschland oder Osteuropa aus.



"S'nimmt mi scho wunder, öb echt no vil Berner i d'Schwiz ine chämed",

... fragte sich einmal kopfschüttelnd Hermann Fröhlich aus Helsighausen.

Das hatte offensichtlich seinen Grund: Karl Schenk aus Raperswilen erzählt, dass 1950 in seiner Schulklasse nur 3 von 30 Schülern Thurgauer waren, alle andern waren bernischer Abstammung.

Gemäss der Volkszählung von 1941 waren 11% der Thurgauer Bevölkerung Berner Abstammung.


Nach dem Umstellung der Landwirtschaft von Getreidebau zu Misch- und Milchwirtschaft wanderten viele Berner Landwirte in den Thurgau ein - und in ihrem Gefolge viele Käser, die ihr Fachwissen (zum Beispiel den Emmentaler, der in einem grossen Teil der Thurgauer Käsereien hergestellt wird) und ihren Berufsstolz zu uns brachten. Man sagt, etwa drei Viertel der Thurgauer Käsereien seien in "Berner Hand".


W. Lenzin: "Vom Berner Haus ins Thurgauer Haus"

W. Lenzin: Vom Berner Haus ins Thurgauer Haus
W. Lenzin: Vom Berner Haus ins Thurgauer Haus

In diesem neu erschienenen Buch beschreibt Werner Lenzin die Einwanderung ausgewählter Berner Familien in den Thurgau.